Eine gefühlte Stunde hatte der Experte für Zahnkunde versucht, ihm den Unterschied zwischen Parodontose und Parodontitis zu verklickern. Verstanden hatte Warnke letztlich, dass sein Zahnhalteapparat aufgrund einer Vereiterung inzwischen böse ramponiert aussehe. Infolgedessen hätte bereits ein Backenzahn seinen Dienst quittiert, ein weiterer sei nicht mehr zu retten. Er müsse raus, sprach der Dentist, zog eine Spritze auf und näherte sich bedrohlich seinem angstvollen Patienten. Wenig entgegenkommend sackte dieser im Behandlungsstuhl nach unten, wohl in der Annahme, total verkrampft wäre der Einstich weniger schmerzhaft. Mitunter ist der Herr mit den Seinen. Just in diesem Moment klingelte Warnkes Handy und erlöste ihn augenblicklich von allem drohenden Übel. Umgehend riss sich Warnke die lange Serviette vom Hals, sprang auf und lief hinaus. Eine unaufschiebbare dienstliche Angelegenheit warte. Die nachgerufenen Warnungen des Dentisten, bei Nichtbehandlung seien nicht nur weitere Zähne gefährdet, sondern drüber hinaus drohten auch Schlaganfall oder Herzerkrankungen, verhallten ungehört.
Denn inzwischen stand Warnke keuchend und Zähne klappernd im Schneematsch auf dem Gehsteig und suchte in seiner Jackentasche nach Zigaretten. Er fühlte sich schwach auf den Läufen, und als ihm der erste tiefe Lungenzug wie ein Blitzschlag durch die Adern zog, erinnerte er sich schaudernd an den Vorabend, als er seine Furcht vor Ärzten allgemein und Zahnärzten im Besonderen mit reichlich Bier und Schnaps bekämpft hatte. Seine Übelkeit verstärkte sich, und ehe er sich versah, ergoss sich sein Mageninhalt im hohen Bogen mitten auf Gehweg und Strasse. Vorbei eilende Passanten wichen angewidert aus, ein Auto bremste scharf ab und kam neben ihm zum Stehen. Der Fahrer schimpfte wie ein Rohrspatz auf ihn, ob er am helllichten Tage schon besoffen sei. Warnke wischte sich den Mund ab, riss die Beifahrertür auf und ließ sich rülpsend in den Sitz plumpsen. Voller Entsetzen versuchte der Fahrer, den ungebetenen Fahrgast wieder loszuwerden. „Du hast die falsche Tür erwischt, Kumpel. Da gehörste hin. Raus hier!“ Er wies auf das Ärztehaus, doch Warnke schüttelte den Kopf. „Mitnichten, Kamerad! Wir zwei machen jetzt mal gepflegt eine Stadtfahrt.“ Der Fahrer zeigte wenig Neigung und reagierte mit dem Stinkefinger. „Bin ich ein Taxi?“ Warnke ließ erst seine Finger knacken und zeigte dann freundlich seinen Dienstausweis. „Weißt Du, Kamerad, wir alle leiden unter gewissen Zwängen. Und meine Behörde steht derzeit unter Sparzwang!“ Der Fahrzeuglenker schüttelte ungläubig den Kopf. „Was denn … und deshalb kannst du jedes Fahrzeug requirieren, wann immer es dir in den Kram passt?“ - „Nein, natürlich nicht,“ erwiderte Warnke, „nur wenn es unvermeidlich ist. Höhere Gewalt, quasi - Und dieser Fall ist jetzt eingetreten. Also, fahr jetzt los: Oberförster Ulrichs-Str.113!“ Der Fahrer kannte die Adresse offenbar. „Da wohnt doch der Simonis, der Millionär!“ Und versuchte witzig zu sein: „Soll er euch wintertüchtige Uniformen sponsern?“
„Simonis - ist - tot!" Warnke achtete auf die effektvolle Wirkung seiner Worte. „Top secret! Die Info kriegte ich eben, als ich beim Zahnarzt saß! Kennst du übrigens den Unterschied von Parodontitis und Parodontose?" Der Fahrer schüttelt ungläubig den Kopf, während er in die Bismarckstraße einbog. „Ist Simonis daran gestorben?" - „Er nicht, aber ich könnte," begann Warnke zu dozieren: „Wichtig ist eine effektive Vorsorge. Plaque und Blutungen sind die Vorboten von Parodontose. Da hilft nur professionelle Reinigung aller Zahnflächen und radikale Entfernung von Zahnstein. Sonst drohen Zahnfleischtaschen und Parodontitis, also eine fiese Entzündung. Erfolgt kein Eingreifen durch einen Experten, droht am Ende sogar der Tod!“ Der Fahrer zeigte sich von Warnkes Schilderung sichtlich beeindruckt. Nachdenklich hielt er vor Simonis` prächtiger Villa.
„Hätte nie gedacht, dass der Tod schon im Kauapparat lauert. Die Polizei sollte besser Warnplakate verteilen statt Kondolenzbesuche zu machen! Noch dazu ... in beschlagnahmten Autos!" Warnke lachte. „Sieh es einfach mal so: Die gesamte Berufswelt steckt im tiefen Wandel. Bäcker verkaufen Zeitungen, Schlachter eröffnen Cafés. Warum also sollten Bürger nicht als Chauffeure den Freund und Helfer unterstützen?" Er öffnete die Autotür und stöhnte auf: „Oh Gott, ist mir plötzlich wieder übel!" Blitzartig sprang der Fahrer aus dem Wagen und riss die Beifahrertür auf. „Versau mir bloß nicht mein Auto! Kotz in Simonis' Garten! Den stört es nicht mehr!“
Warnke ließ sich gequält grinsend aus dem Sitz helfen. Ehe er die Gartenpforte öffnete, erfolgte ein klarer Befehl: „Du wartest hier!" Ergeben nickte der Fahrzeughalter und blickte Warnke nach, als dieser an der Eingangstür Sturm klingelte. „Aufmachen! Polizei!“.- „Tritt doch die Tür ein,“ witzelte der Autobesitzer, „im Einsatz dürft ihr anscheinend doch alles! Übrigens, Kumpel, hast du schon die verzierten Kreuze über dem Eingang gesehen? Vermutlich für jede Million eine … und Platz für weitere wäre vorhanden!“ Warnke stieg auf die humorvollen Hinweise ein, während er weiter Sturm klingelte. „Sicherlich! Doch jetzt gesellt sich erstmal nur ein tiefschwarzes dazu!“ Von drinnen waren Schritte vernehmbar, und ein meckerndes „is ja guutt!!“ Die Tür wurde geöffnet und ein pickliger Bursche in Skikleidung erschien. „Was gibt’s?“ fragte er genervt und hieb einen Skistock auf den Fußboden. „Mein Onkel kauft nichts mehr! Er ist nämlich - verstorben!!“ Warnke hielt dem Pickligen seinen Dienstausweis unter die Nase und schob ihn vor sich her ins Haus. „Verwandt oder verschwägert? - Neffe, aha!“ Auf der breiten Treppe zum Obergeschoß stand ein weiterer junger Mann, ebenfalls im Skidress, schlaksig seine Arme schlenkernd. „Mein jüngerer Bruder,“ stellte Pickel vor, „wir waren Skifahren, am Wurmberg.“
Warnke, jetzt voll in seinem Element und ganz Profi, kam gleich zum Pudels Kern: „Wo liegt der Tote?“ - „Zu Ihren Füßen,“ rief der Schlaksige von der Treppe herunter. Warnke mochte es, wenn Zeugen klare Auskünfte erteilten. „Was meint der Notarzt?“ Beide antworteten unisono: „Nix. Als wir das letzte Mal von ihm hörten, steckte er mit dem Rettungswagen vor Königskrug im Stau.“ Der Picklige jonglierte mit dem Skistock. „Wir haben Winter. Da sind Staus keine Seltenheit. Heute Morgen, als mein Bruder und ich aus Bad Harzburg anreisten, war die Strecke noch frei.“ Die Beiden wohnten also nicht ständig hier, folgerte Warnke messerscharf. Der Picklige nickte zustimmend: „Nur wenn wir den Onkel besuchen. Äh besuchten…“ - „Lebte der Onkel bei eurem letzten Besuch noch?“ Pickel starrte den Polizeibeamten an wie einen Geisteskranken. „Ja, glauben Sie, wir gehen Skilaufen, wenn unser Onkel tot unter der Treppe liegt?“ Pickels Empörung spielte Warnke in die Karten. Jetzt den Finger weiter in die Wunde legen und noch einen drauf setzen. Er deutete auf den Toten: „Hat einer der Herren eine Vermutung, wie der werte Onkel dort hingekommen ist?“ Die Beiden zuckten mit den Schultern. Schlaksig erklärte, nach dem Skilaufen sei er gleich auf sein Zimmer gegangen, um sich auszuruhen. Irgendwann habe er Pickel entsetzt rufen hören, der Onkel liege tot unter der Treppe. Warnke schaute die beiden Brüder prüfend an, legte seine Stirn nachdenklich in Dackelfalten und zeigte auf das Messer, das dem Toten im Rücken steckte. „Tja, und wie erklären sich die Herren das Küchengerät in seinem Kreuz?“
Eilfertig schoss Schlaksig die Treppe hinab. „Ich erkläre es mir so: Er bereitete gerade das Mittagessen zu und hat sich beim Zwiebelschneiden verletzt und wollte Verbandszeug holen. Auf der Treppe ist er gestolpert, nach hinten gekippt – und unglücklich in sein Messer gestürzt.“ Warnke stutzte. „Ihr Onkel war Millionär. Da isst man doch keine selbstgeschälten Zwiebeln zu Mittag!“ - „Er schon“, mischte sich der Picklige ein, „der Onkel war äh geizig.“ - „Das kann ich bestätigen,“ ergänzte Schlaksig eifrig und fügte arglos hinzu: „Wir hingegen haben Geldsorgen. Doch meinen Sie, der Onkel hilft? Obwohl wir seine einzigen Verwandten sind!“ - „Interessant!“, murmelte Warnke. Der auskunftfreudige Bruder schlug die Hand vor den Mund, erschrocken über seine eigenen Worte. Denn nun war es heraus: sie hatten ein Motiv! Warnke fixierte beide Männer scharf. Der Picklige schien über die Naivität des Bruders so erbost, dass er ihm wohl am liebsten seinen Skistock in den Wanst gerammt hätte. Doch stattdessen bot er fix eine andere These an: „Falls es kein unglücklicher Treppensturz war ... der Onkel war im Ort für seinen ausgeprägten Geiz bekannt. Vielleicht hat er jemanden über den Tisch ziehen wollen…“ Schlaksig überzeugte die Erklärung, denn er hob anerkennend den Daumen hoch. - Ich muss die Beiden separieren, wenn ich Widersprüche aufdecken will, meldete sich der Polizist in Warnke: „Wir setzen das Verhör auf der Wache fort. Ziehen Sie sich um, meine Herren! Mein Wagen wartet vor der Tür.“ Er strich dabei mit der Zunge nachdenklich an der geschädigten Zahnleiste entlang. Der zweite Zahn wackelte bereits gefährlich ... er konnte ihn fast mühelos um 90 Grad gegen die Wange drücken. Mit Gewalt raus oder noch eine Weile mit ihm herumspielen, das war die Frage.
Die Brüder erschienen gleichzeitig. Der Picklige trug einen niegelnagelneuen schwarzen Anzug, mit weißem Hemd und dunkler Krawatte, während sein Bruder mit hellblauer Jeans und buntem Hemd bekleidet war. Warnke ging sofort und gleich ein Licht auf. Für ihn war die Sache jetzt klar, der Fall gelöst. Fast zeitgleich hatte die Zunge den Zahn endgültig aus dem entzündeten Zahnfleisch herausgepult. Warnke spuckte den Zahn in die Hand und wandte sich an Pickel: „Feiner Zwirn! Sehr vorausschauend, dass Sie den schwarzen Anzug gleich zum Onkel mitgebracht hatten.“ Schlaksig sah seinen Bruder verdattert an, dann wurde auch ihm schlagartig klar, was Warnke eben durchschaut hatte:
Wieso wusste Pickel eigentlich, dass er Trauerkleidung brauchen würde …??
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